Die Anfänge des Calwer Gewerbevereins (1848 – 1875)

Als sich 1848 der Calwer Gewerbeverein aus dem Calwer Handwerkerverein heraus gründete, konnte Calw bereits auf eine lange erfolgreiche Tradtion als Gewerbestandort zurückblicken. Zugegeben, die Oberamtsstadt an der Nagold war durch ihre Lage immer mehr von wichtigen Verkehrswegen abgelegen und eine Eisenbahn sollte erst 24 Jahre später erbaut werden, das historisch ansässige Textilgewerbe florierte aber in dieser Frühphase der württembergischen Industrialisierung weiterhin prächtig.

Die Calwer Wirtschaft vor 1848

Seit Ende des 30-jährigen Krieges hatte sich Calw durch seine Holz- und Textilindustrie zu einem der wichtigsten Wirtschaftszentren im Herzogtum und späteren Königreich Württemberg entwickelt. Während die Flößerei im 19. Jahrhundert ihre Blütezeit bereits hinter sich hatte – zu sehr stand sie doch in der Gewässernutzung gegen die Interessen der anderen Gewerbezweige –,  blühte die Textilindustrie und ihre vielfältigen Nebenzweige schon vor der Jahrhundertmitte mit viel Innovation und Aufschwung unter großen Bemühungen neu auf. Die Zeiten der Calwer Zeughandelscompagnie waren zwar 1797 zu Ende und mit ihr auch langsam aber sicher die nun überholte Wirtschaftsform des Verlags, aber hielten sich – bedingt auch durch den wasserreichen Standort – in der Stadt weiterhin verschiedenste Textilunternehmen.

Während als Verlag die Textilien dezentral von (formal) selbstständige kleinen Handwerksbetrieben hergestellt und nur zentral vom Verleger abgesetzt wurde, zeigte sich nun die Tendenz zu immer fabrikartigeren größeren Fertigungsstätten, die Produktion und den direkten Absatz übernehmen. Dieser Wandel der Organisationsform war begleitet von stetigen Veränderungen der Arbeitsabläufe und gewählten Produktionsweisen: Von der Strumpfwirkerei stellte man zur Strickerei um, die Tuchmacher setzten immer mehr auf appretierte, feine, modische Tücher, es wurden Trikotagenfabriken errichtet, Spinnereien und Webstühle wurden immer weiter mechanisiert; kurz: die Industrie wandelte sich unheimlich schnell und die Unternehmen taten es mit ihr.

Eine solche Wandlungsfähigkeit war keineswegs selbstverständlich, setzte sie doch vor allem das nötige Investitionskapital voraus und Kredite wurden Anfang des 19. Jahrhunderts doch nur sehr zögerlich, wenn überhaupt, gewährt. Die württembergische Politik, wie auch die breite Masse der Bevölkerung, war den beobachteten Änderungen der Industrialisierung im „Ausland“ nicht gerade wohlwollend über aufgestellt. Man hielt die bestehenden kleingewerblichen Verhältnisse für Württemberg besser geeignet und scheute sich vor der Gründung größerer Fabriken und den damit einhergehenden wirtschaftlichen wie vor allem auch gesellschaftlichen und auch sozialen Veränderungen. 

Dieses Zögern und die fehlende frühe Initiative von staatlicher Seite führt dazu, dass es in Württemberg vor allem die reichen Kaufmannsfamilien waren, die das notwendige Kapital und den unternehmerischen Mut hatten, die Schritte Richtung Industrialisierung zu gehen – und in Calw gab es davon zur Genüge. Seine lange Tradition als Wirtschaftszentrum und die damit einhergehende reiche städtische Unternehmerschicht war für Calw die ideale Voraussetzung, um sich der Entwicklung zur Industriestadt zu stellen. Während sich mancher „neigschmeckter“ Unternehmer vergeblich um die Genehmigung für sein Gewerbe bemühte, bestanden bei den örtlichen Familien zudem genügend Verbindungen zu den Orts- und Oberamtsverwaltungen, um Vorhaben nicht an den nicht unbeachtlichen rechtlichen Hürden der Zeit scheitern zu lassen. So überrascht es nicht, dass in Calw die erste mechanische Spinnerei in Württemberg in Betrieb ging. Namen wie Wagner, Schill, Zahn oder Doertenbach waren in allen Bereichen der Textilindustrie mit Unternehmungen tätig, sei es Kratzenfabrikation, Deckenfabrikation, Färberei, Strickerei etc.

 

Johann Georg Doertenbach

Besonders maßgeblich sollte Johann Georg Doertenbach (oder Dörtenbach) für die wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Entwicklung Calws im 19. Jahrhundert werden.

1795 als Sohn von Christoph Martin Doertenbach und Christiane Doerothee, geb. Zahn, in Calw geboren, trat er nach einer kaufmännischen Ausbildung und Reisen durch das Rheinland, Frankreich und Belgien um 1815 in die väterlichen Geschäfte ein. Christoph Martin Doertenbach betätigte sich an  Speditionsgeschäften in Amsterdam und in Calw mit der Firma Wagner, Schill & Compagnie im Wollzeuggeschäft und später auch in der Tuchfabrikation. Georg Doertenbach zeigte schon früh viel geschäftliches Geschick und baute die Familiengeschäfte mit unterschiedlichsten Projekten erfolgreich weiter aus. So gründete er im Raum Calw die erste Kratzenfabrik, eine Papierfabrik, baute vielfältig mit innovativen Neuerungen die Textilunternehmen der Familie aus, sei es mit technischen Neuerungen oder neuen Unternehmungen, etwa mit der Fabrik Doertenbach und Schauber, um nur einige aufzuzählen. Maßgebend wird sein Engagement bei der Gründung der Maschinenfabrik Esslingen 1846, deren Entwicklung er danach als Verwaltungsratvorsitzender begleitete. Auch vor Betätigungen im Bankbereich mit der 1845 gegründeten Bankgeschäft Doertenbach und Compagnie in Stuttgart schreckte er nicht zurück.

Von Anfang an war Georg Doertenbach auch politisch aktiv. 1829 trat er quasi wie selbstverständlich die Nachfolge seines Schwiegervaters Christian Jacob Zahn als Landtagsabgeordneter für Calw an, welche er bis 1856 inne haben sollte. Auch wurde er zum Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung gewählt. Das württembergische Finanzministerium, das ihm Friedrich Roemer 1848 angetragen hatte, übernahm er aber nicht. Auch an verschiedenen wirtschaftspolitischen Initativen beteiligte er sich, allen voran die württembergische Gesellschaft zur Beförderung der Gewerbe, die von 1830 bis 1848 bestand, bis sie von der Zentralstelle für Gewerbe und Handel als Mittelbehörde des Innenministeriums abgelöst wurde, in deren Beirat er 1856 gewählt wurde. Er ist auch als treibende Kraft hinter der Errichtung einer eigenen Handelskammer für Calw im Jahre 1866 zu sehen. Kurz: Johann Georg Doertenbach war als Unternehmer und Politiker eine zentrale Figur für die wirtschaftliche Entwicklung Calws im 19. Jahrhundert. Es überrascht also wenig, dass seine Figur auch eng mit den Anfängen des Calwer Gewerbevereins verbunden ist.

Die Gründung des Gewerbevereins 1848

Eine Vereinsgründung im Revolutionsjahr, das klingt immer so, als könne man Geschichten über den kleinen Mann schreiben, der sich seine Rechte in einem idealen Streben nach Demokratie wider allem obrigkeitlichen Widerstand erkämpft. Und so waren auch tatsächlich Handwerker unter den versammelten Menschen vor dem Calwer Rathaus dabei, die im Juni 1849 eine demokratische Landesverfassung für Württemberg, wenn nötig mit Waffengewalt, forderten; doch fiel die Gründung des Calwer Gewerbevereins eher unter die Interessen der wohlsituierten Fabrikbesitzer wie Johann Georg Dörtenbach, von dem die Initiative zur Gründung ausging, als dem traditionellen kleinen Handwerksbetrieb. Einen konkreten Anlass kann man eher in der Aufnahme der Arbeit der Zentralstelle für Gewerbe und Handel am 8. Juni 1848 unter Oberregierungsrat von Sautter und später Ferdinand Steinbeis in Stuttgart sehen, dem so nun in Calw ein Interessenverband der Gewerbetreibenden gegenübertreten konnte.

Die Zentralstelle für Gewerbe und Handel war in Württemberg vergleichbar mit Entwicklungen in Preusen, Bayern oder Österreich im Revolutionsjahr entstanden. Zu Beginn eher zaghaft, sollte sie vor allem unter Ferdinand von Steinbeis 1856-1880 eine maßgebliche treibende Kraft für die zweite Phase der Industrialisierung in Württemberg werden. Nicht untypisch für das pietistisch geprägte Württemberg lag dabei auch immer ein starker Fokus auf der Erziehungsarbeit, die sich schon 1853 mit einer Kommission für die gewerblichen Fortbildungsschulen organisierte.

Die Erfahrung der Hungerkrisen der Jahre 1846/7, die einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung in und um Calw zum Aufbruch in die Neue Welt zwang, dürfte auch dazu beigetragen haben, dass die örtlichen Unternehmer einen Handlungsdruck sahen, aktiver für ihre Interessen (und Bedürfnisse) politisch einzutreten und enger zu kooperieren.

Nach den Statuten war der Zweck des Vereins die Förderung des Gewerbes und die Interessenvertretung „nach allen Seiten“. Gewerbeförderung darf man sich hierbei aber nicht als Kreditmöglichkeit für angehende Unternehmer oder für benötigte Investitionen vorstellen, sondern vielmehr als gemeinsamer Bezug von Fachzeitschriften, zum Erlernen neuer oder verbesserter Verarbeitungsmethoden und der Organisation gemeinsamer Besuche und Ausrichtung von Gewerbeausstellungen. Unter die Interessenvertretungen fiel neben der Kommunikation mit der Zentralstelle und der Handelskammer in Stuttgart auch für das Gewerbe relevante Themen im Verkehrswesen. Allem voran war dabei immer die Frage nach dem Anschluss an das Bahnnetz. Eine Bahnanschluss wurde immer mehr essentiell, um Wettbewerbsfähig zu bleiben und sein Fehlen wurde daher Mitte des Jahrhunderts immer mehr als wirtschaftshemmender Faktor für Calw wahrgenommen. Direkt 1848 konnte der Verein, abermals auf Initiative Doertenbachs hin auch die Gründung einer Gewerbe- und Fortbildungsschule in Calw verwirklichen.

 

Vom Gewerbeverein zum Handels- und Gewerbeverein

In den folgen Jahren nehmen wir den Calwer Gewerbeverein vor allem als gemeinsamen Adressaten bei Anfragen aus Stuttgart oder im gemeinsamen Auftreten der Calwer Gewerbetreibenden bei verschiedenen Gewerbeausstellungen, sei es national oder international, wahr. So erhält der Verein beispielsweise 1850 eine Anfrage der Kommission für die Londoner Industrieausstellung, warum denn die Calwer Unternehmen sich hierfür noch nicht in angemessener Menge angemeldet hätten und nimmt natürlich auch an besagter Ausstellung teil. Aber auch – ganz im Sinne des Vereins – als Interessenvertretung der Gewerbetreibenden tritt der Verein auf, etwa wenn er am 29. Juli 1849 eine Petition an die Deutsche Nationalversammlung in Frankfurt adressiert und natürlich in seinen Anfragen an die Zentralstelle in Stuttgart.

In dieser Zeit bleibt die Wirkung des Gewerbevereins aber immer hinter seinen prominenten Mitgliedern, allen voran Georg Doertenbach zurück und es verschwimmt manchmal etwas, wann hier im eigenen Namen und wann im Namen des Vereins gehandelt wird. Die Darstellung von Gewerbe und Handel in Calw für die württembergischen Oberamtsbeschreibungen 1859 beispielsweise verfasste wie selbstverständlich Georg Doertenbach, laut Selbstbezeichnung in dieser Schrift aber betont in seiner Rolle als Gewerbevereinsvorsitzender. Wichtig ist nochmals zu betonen, dass im Gewerbeverein vorrangig die ohnehin schon familiär eng verknüpften Calwer Unternehmer vertreten waren und nur sehr nachrangig kleinere Handwerksbetriebe. Das Label „Gewerbeverein“ wurde vor allem auch dann gewählt, wenn man politisch zwischen wirtschaftlichen Eigeninteressen und dem Allgemeinwohl unterscheiden wollte, etwa in Fragen des Infrastrukturausbaus. Es wirkte einfach besser, wenn sich Doertenbach als Sprecher des Gewerbevereins für eine Telegraphenanbindung für Calw einsetzte, als als einzelner Unternehmer.

Post- und Telegraphenanbindung fanden in den 1850er und ‘60er Jahren dann auch tatsächlich ihren Weg nach Calw und kurbelten die blühende Textilindustrie weiter an. Auch die lang ersehnte Anbindung an das Eisenbahnnetz erfolgte 1865 mit der Entscheidung zum Bau der Württembergischen Schwarzwaldbahn. Bei den Versuchen, den Streckenverlauf möglichst günstig für das eigene Unternehmen zu beeinflussen, traten dann aber nicht der Gewerbeverein, sondern seine einzelnen Mitglieder politisch in den Vordergrund. Die Gewerbeausstellung in Calw 1872 anlässlich der Eröffnung der Strecke war dann aber wieder eine gemeinschaftliche Unternehmung des Vereins.

Inzwischen war 1870 auch der langjährige Vereinsvorsitzende Georg Doertenberg verstorben, mit der Gewerbeordnung 1862 die allgemeine Gewerbefreiheit durchgesetzt und mit dem Deutschen Kaiserreich eine höhere Ebene in der wirtschaftspolitische Organisation dazugekommen. Nach einer kurzen Phase der Euphorie sollte 1873 die Gründerkrise die Wirtschaft beinahe zum Erliegen bringen. In dieser unsicheren Zeit schloss sich der Gewerbeverein 1875 mit dem 1867 Calwer Handelsverein zum Handels- und Gewerbeverein Calw zusammen. Durch weitere wirtschaftliche Veränderungen, etwa dem Wechsel von der Trikotagen- zur Westenproduktion bei der Firma Christian Ludwig Wagner, konnte die Krise der 1870er Jahre schnell überwunden werden. Im folgenden allgemeinen Aufschwung, die man als seine Blütezeit als Textilstandort beschreiben kann, sollte Calw nun einer langen Phase der Hochkonjunktur bis 1913 entgegen schauen.

 

Literatur zum Thema:

  • Darstellung von Gewerbe und Handel in Calw durch den Gewerbevereinsvorsitzenden Dörtenbach (1859), Staatsarchiv Ludwigsburg E 258 VI Bü 992.
  • Borst, Otto: Staat und Unternehmer in der Frühzeit der württembergischen Industrie (2. Teil), in: Tradition 11 (4/1966), S. 153-174.
  • Flik, Reiner: Die Textilindustrie in Calw und Heidenheim 1750-1870, Zeitschrift für Unternehmensgeschichte Beiheft 57, Stuttgart 1990.
  • Gebauer, Hellmut: Johann Georg Dörtenbach. Unternehmer, Bankier, Politiker 1795-1870, Kleine Reihe Archiv der Stadt Calw 29, Calw 2013.
  • Höschle, Gerd: Wirtschaftsgeschichte II. 19. und 20. Jahrhundert, Calw – Geschichte einer Stadt, Calw 2005.